Schon ein flüchtiger Blick auf die Weltkarte zeigt: Russland und China sind Giganten. China, lange der bevölkerungsreichste Staat der Welt, hat rund 1,4 Milliarden Einwohner; Russland ist mit deutlichem Abstand der grösste Flächenstaat. Beide Länder sind Atommächte und sitzen im Sicherheitsrat der UNO. China, derzeit die zweitgrösste Wirtschaftsmacht hinter den USA, ist die grösste Exportnation, während Russland über die bedeutendsten Rohstoffreserven verfügt.
Das Verhältnis zwischen diesen beiden Staaten ist wechselhaft und von Rivalität geprägt. Lange dominierte Russland – genauer gesagt das Russische Reich und danach die Sowjetunion – die Beziehungen, während das krisengeschüttelte chinesische Kaiserreich im 19. und frühen 20. Jahrhundert sein «Jahrhundert der Demütigung» erlebte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und mit dem Aufstieg Chinas hat sich das Verhältnis umgekehrt: Besonders seit 2014, als Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektierte und der Westen darauf mit Sanktionen reagierte, gerät Moskau immer mehr in die Rolle eines Juniorpartners Pekings.
Die gegenwärtige russisch-chinesische Allianz beruht vornehmlich darauf, dass die beiden autokratischen Staaten einen gemeinsamen Gegner haben: die fragile liberale Weltordnung unter Führung der USA. Dies kaschiert allerdings die Konkurrenz zwischen den beiden Giganten, die sich etwa in ihrem Ringen um Einfluss in Zentralasien zeigt. Hinter den Freundschaftsbeteuerungen von Wladimir Putin und Xi Jinping lauert nach wie vor das Misstrauen zwischen Moskau und Peking, Ergebnis der langen gemeinsamen Geschichte zweier rivalisierender Imperien. Ein Rückblick.
Ab dem 16. Jahrhundert stiess Russland immer weiter nach Osten vor und eroberte allmählich die riesige Landmasse Sibiriens. Im Jahr 1618 erreichte erstmals ein russischer Gesandter den kaiserlichen Hof in Peking; rund 30 Jahre später kam es zu ersten militärischen Konfrontationen zwischen russischen Kosaken und Truppen des chinesischen Qing-Reiches im Fernen Osten. Darauf regelte der Vertrag von Nertschinsk 1689 den Grenzverlauf in der Amur-Region, wobei das Zarenreich umfangreiche zuvor besetzte Gebiete verlor. Im Gegenzug erhielt Russland in diesem Abkommen – dem ersten chinesischen Vertrag auf Augenhöhe mit einer europäischen Macht – Handelsprivilegien und eine diplomatische Vertretung in Peking.
Für das Zarenreich wie das Qing-Reich waren diese ausgedehnten Grenzgebiete, die weit überwiegend von anderen Völkern bewohnt waren, eher peripher. Beide Staaten bauten dort aber in den folgenden Jahrzehnten ihre staatliche Präsenz aus. Im 19. Jahrhundert verschob sich dann das Machtgefälle allmählich zugunsten von Russland; das Qing-Reich geriet immer mehr unter Druck europäischer Mächte sowie Japans und wurde im Inneren von zahlreichen Aufständen erschüttert. Diese Schwäche erlaubte es den Kolonialmächten, Peking zu unvorteilhaften Vertragsabschlüssen zu nötigen: den sogenannten Ungleichen Verträgen.
Auch das Russische Kaiserreich profitierte von der Schwäche Chinas und annektierte schliesslich die ganze Äussere Mandschurei samt der heutigen Region Primorje, wo der Hafen Wladiwostok gegründet wurde. Die Gebietsabtretung wurde in den Verträgen von Aigun (1858) und Peking (1860) besiegelt. Russland baute danach seine Position auch im chinesischen Teil der Mandschurei aus und übernahm gegen Ende des Jahrhunderts den Hafen von Lüshun (Port Arthur). Mittlerweile trat das Zarenreich als Schutzmacht Chinas auf, die das wankende Qing-Reich vor dem Zugriff Japans bewahrte.
Dies führte zu Spannungen mit Japan, die sich schliesslich im Russisch-Japanischen Krieg entluden, in dem es um die Vorherrschaft in der Mandschurei und Korea ging. Die russische Niederlage 1905 machte weitere russische Ambitionen zunichte. Die Ungleichen Verträge wurden im 20. Jahrhundert teilweise revidiert – so gab etwa Grossbritannien das 1842 annektierte Hongkong 1997 an China zurück. Dagegen ist die chinesisch-russische Grenze im Fernen Osten seit 1860 unverändert geblieben.
In China hat man diese Schmach jedoch nicht vergessen. Noch vor der Machtübernahme der Kommunisten 1949 forderte die Republik China die Annullierung der Verträge, und auch das kommunistische China stellte sich auf diesen Standpunkt. Zwar wurde der Grenzverlauf mit Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bis 2005 einvernehmlich geregelt. Doch Moskau, das mit der Annexion der Krim und ostukrainischer Oblaste die Unverletzlichkeit der Grenzen selbst missachtet hat, muss damit rechnen, dass ein weiter erstarktes China künftig versuchen könnte, die Grenze wieder zu verschieben – etwa wenn ein demografisch und wirtschaftlich stark geschwächtes Russland in verschiedene politische Einheiten zerfiele.
Nachdem die Bolschewiki die Macht in Russland übernommen hatten, verzichteten sie zunächst – getreu ihrer antiimperialistischen Ideologie – auf territoriale Ansprüche des Russischen Kaiserreichs. Die 1922 gegründete Sowjetunion befreite sich freilich schnell von diesem Ballast und schon 1924 geriet die Äussere Mongolei, einst Teil des Qing-Reichs, als erster sowjetischer Satellitenstaat unter die indirekte Herrschaft des Kremls. Im 1927 ausgebrochenen Chinesischen Bürgerkrieg unterstützte der sowjetische Diktator Josef Stalin zunächst die Nationalisten, da er mit deren Sieg rechnete. Doch nach der sowjetischen Kriegserklärung an Japan am Ende des Zweiten Weltkriegs überrannte die Rote Armee die japanischen Truppen in der Mandschurei und trug danach massgeblich zum Sieg der Kommunisten bei.
Nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 intensivierten sich die sowjetisch-chinesischen Beziehungen. Im Bestreben, im beginnenden Kalten Krieg ein Gegengewicht zu den USA zu bilden, formierten die beiden kommunistischen Staaten eine politische und militärische Allianz, die 1950 in einem Freundschaftsvertrag festgeschrieben wurde. Sowjetische Experten unterstützten den Aufbau der chinesischen Industrie und zahllose Studenten aus China studierten im «Mutterland des Kommunismus». Die Sowjetunion verzichtete auf die einst vom Russischen Reich beanspruchten Konzessionen in der Mandschurei und gab den sowjetischen Stützpunkt Port Arthur an China zurück, während China die Unabhängigkeit der Mongolei akzeptierte.
Gleichwohl gab es Misstöne im kommunistischen Duett. So verwehrte Stalin dem Bündnispartner Zugang zu sowjetischer Atomtechnologie, während der chinesische Machthaber Mao Zedong die Bedingungen, an die die sowjetische Hilfe geknüpft war, als unhöflich empfand. Die Differenzen verstärkten sich gegen Ende der 1950er-Jahre, bis es zum Bruch zwischen Moskau und Peking kam – zur Erleichterung des Westens, der sich einem geeinten kommunistischen Block gegenübergesehen hatte.
Nach dem Tod Stalins begann sein Nachfolger Nikita Chruschtschow eine Politik der Entstalinisierung. In seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU prangerte er 1956 Stalins Machtmissbrauch und den Personenkult an. Dies missfiel Mao, der in China seinen eigenen Führerkult aufgebaut hatte. Zudem schlug Mao ab 1958 einen eigenen wirtschaftspolitischen Kurs ein, den «Grossen Sprung nach vorn», der freilich zu einer verheerenden Hungersnot führte. Die ideologischen Differenzen führten dazu, dass die chinesische KP den sowjetischen Kommunismus 1961 als «Werk von revisionistischen Verrätern» bezeichnete.
Nach der Kuba-Krise, die 1962 beinahe zu einem Atomkrieg zwischen der Sowjetunion und den USA geführt hatte, warf Mao Chruschtschow überdies vor, er sei vor den Amerikanern eingeknickt. Im selben Jahr unterstützte Moskau im Grenzkrieg zwischen Indien und China nicht China, sondern Indien. Der Bruch zwischen den beiden kommunistischen Vormächten führte zur Konkurrenz um die Führung des Weltkommunismus und zur Spaltung der kommunistischen Staaten in eine sowjetische und eine chinesische Einflusssphäre.
Die chinesisch-sowjetische Spaltung kulminierte 1969 in einem Grenzkonflikt am Ussuri, bei dem es erstmals zu Gefechten zwischen zwei kommunistischen Staaten kam. Auch im westlichen Grenzgebiet gab es Kämpfe; dort versuchten die Sowjets, die Uiguren in Xinjiang zur Rebellion gegen Peking aufzustacheln. Auslöser des Konflikts war vermutlich, dass Mao sich davon innenpolitische Vorteile versprach, etwa eine Ablenkung von den Auswirkungen seiner Kulturrevolution. Da China seit 1964 ebenfalls Atombomben besass, drohte ein nuklearer Schlagabtausch – insbesondere der Kreml erwog einen Präventivschlag. Es gelang jedoch, den Konflikt einzugrenzen und in Geheimverhandlungen einen Waffenstillstand zu vereinbaren.
China suchte nun eine Entspannung mit den USA, was 1972 zum Besuch des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon in Peking führte. Zuvor hatte Peking bereits von Nationalchina (Taiwan) die chinesische UNO-Vertretung übernommen. Die Sowjetunion näherte sich später ebenfalls den USA an, worauf sich ein amerikanisch-chinesisch-sowjetisches Dreiecksverhältnis entwickelte. Die Beziehungen zwischen Moskau und Peking entspannten sich allerdings vorerst nicht wesentlich, auch nach Maos Tod 1976 nicht.
Dies lag an den «drei grossen Hindernissen», die der neue starke Mann in Peking, Deng Xiaoping, benannte: Erstens unterstützte die Sowjetunion Vietnam, das 1979 das mit China verbündete Kambodscha besetzt hatte, um die Schreckensherrschaft der Roten Khmer zu beenden. Die chinesische Volksarmee marschierte darauf in Vietnam ein, musste sich aber nach grossen Verlusten zurückziehen. Das zweite Hindernis war die militärische Präsenz der Sowjets in Afghanistan, das dritte ihre Truppenkonzentration an der chinesischen Grenze.
Erst in den 1980er-Jahren entspannte sich das chinesisch-sowjetische Verhältnis merklich, besonders seit dem Amtsantritt des sowjetischen Reformers Michail Gorbatschow. Dessen Staatsbesuch in Peking markierte 1989 die Normalisierung der Beziehungen. Gorbatschows Visite fand während der Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens zusammen; viele der Demonstranten feierten ihn als Ikone liberaler Reformen. Kurz darauf schlug die chinesische Führung die Proteste blutig nieder – und schob damit einer möglichen Demokratisierung Chinas den Riegel. Das Massaker isolierte Peking aussenpolitisch.
Russland, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion deren Erbe antrat, verblieb vorerst als einziger Partner Chinas. Die bilateralen Beziehungen verbesserten sich deutlich, auch weil nun alte ideologische Gegensätze obsolet geworden waren. Die Grenzstreitigkeiten konnten in den folgenden Jahren weitgehend beigelegt werden. Entsprechend freundlicher klang nun die Rhetorik: War 1992 noch von «befreundeten Ländern» die Rede, hiess es zwei Jahre später «konstruktive Partnerschaft», weitere zwei Jahre später «strategische Partnerschaft» und 2016 schliesslich «umfassende strategische Partnerschaft».
Die Annäherung der zuvor verfeindeten Staaten beruhte allerdings nicht auf Vertrauen. Vielmehr waren es gemeinsame geopolitische Interessen, die dazu beitrugen, dass Peking und Moskau näher zusammenrückten: Beide Länder lehnen die unipolare Weltordnung unter US-Führung ab und arbeiten auf eine multipolare Weltordnung hin. Dabei versuchen sie zusehends, auch Staaten des Globalen Südens einzubinden, etwa die vormaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken und die BRICS-Staaten. Beide Länder waren zudem vom Westen, namentlich den USA, enttäuscht; China in der Taiwan-Frage, Russland etwa durch die westliche Reaktion auf seine Intervention in Georgien 2008 und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014.
Seit dem Beginn des Ukrainekriegs im Februar 2022 ist Russland international isoliert und mehr denn je auf die Unterstützung Chinas angewiesen. Tatsächlich könnte das von westlichen Wirtschaftssanktionen gebeutelte Russland ohne die Hilfe des wirtschaftlich potenten Nachbarlandes, das russisches Öl und Gas in grossen Mengen kauft, den verlustreichen Krieg wohl kaum weiterführen. Auch die militärische Zusammenarbeit hat sich offenbar verstärkt: Seit Kriegsbeginn haben die gemeinsamen Manöver an Zahl und Umfang stark zugenommen.
Gleichwohl hütet sich Peking, Putins aggressives Vorgehen zu billigen – weder bei Georgien noch bei der Annexion der Krim oder dem Angriffskrieg auf die Ukraine –, und ruft stattdessen unverbindlich zum Dialog auf. China will seine westliche Kundschaft nicht vergraulen, denn Russland mit seinen gut 140 Millionen Einwohnern und einem Bruttoinlandprodukt, das etwa so gross wie jenes von Texas ist, kann diesen wichtigen Markt in keiner Weise ersetzen.
Ohnehin haben sich in dieser strategischen russisch-chinesischen Partnerschaft die Gewichte längst massiv verschoben. Heute exportieren die Chinesen, die in Zukunftstechnologien wie der Künstlichen Intelligenz mit an der Spitze stehen, Elektronik, Autos und Maschinen nach Russland und beziehen im Gegenzug Rohstoffe, vornehmlich Gas und Öl. Einst war es umgekehrt: Die Sowjets lieferten Maschinen nach China, aus dem sie Lebensmittel und Rohstoffe importierten. Vorbei sind auch die Zeiten, da chinesische Studenten in Moskau ausgebildet wurden, um ihr Wissen danach in die Heimat zu tragen.
Die Stimmen mehren sich daher, die Russland als Juniorpartner oder gar Vasallenstaat Chinas bezeichnen. Der Politikwissenschaftler Alexander J. Motyl ging vor einem Jahr sogar so weit, Russland eine chinesische Kolonie zu nennen. Die westlichen Sanktionen führen zudem dazu, dass China beim Import von russischem Gas sehr hohe Rabatte geniesst. Bei anderen Rohstoffen seien die Preise so niedrig, dass Russland froh sein müsse, überhaupt die Produktionskosten decken zu können, sagt der deutsche China-Experte Bernhard Weber. Chinesische Unternehmen nutzen überdies den Exodus westlicher Firmen aus Russland und stossen in die Nischen vor, die diese hinterlassen haben.
Während Russland mittlerweile klar auf China angewiesen ist, ist dies umgekehrt weniger deutlich. Aber Russland ist nicht nur als Rohstofflieferant ein nützlicher Partner Pekings. Der Krieg, den der Kreml in der Ukraine führt, hat zumindest bisher die vermehrte Fokussierung der USA auf Asien gebremst, wie der chinesische Aussenminister Wang Yi der EU-Aussenbeauftragten Kaja Kallas unlängst hinter verschlossenen Türen zu verstehen gab. Dies liegt im Interesse Chinas – zumal sich der Ton zwischen Peking und Washington seit dem neuerlichen Amtsantritt von Donald Trump verschärft hat. Ohnehin hat die Konkurrenz zwischen den USA und China, den zwei grössten Wirtschaftsmächten, in letzter Zeit merklich zugenommen. Vor diesem Hintergrund dürfte Russland für China wohl auf absehbare Zeit ein unverzichtbarer Partner bleiben.
China wartet, bis Russland so geschwächt ist, dass es diese Gebiete sogar „freiwillig“ den Chinesen überlassen wird.
BTW ein Teil der Leser tat damals meinen Kommentar als Unsinn ab. Aber China bzw. die Chinesen vergessen nie was. Man muss sich nur mit der chinesischen Mentalität und Kultur auseinandersetzen.
"Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus" .
Kann man interpretieren wie man will.